Medizinprodukteverordnung Endprothetik
Arthrose

Medizinprodukteverordnung Gelenkersatz: Chance oder Risiko?

Zuletzt aktualisiert am 13. September 2024 von tirolturtle

Medizinprodukteverordnung Gelenkersatz: Chance oder Risiko? Eine Analyse von Gastbloggerin Angelika Eisenhut ergänzt von Barbara Egger-Spiess.

Medizinprodukteverordnung Gelenkersatz ist ein heißes Eisen. Für Kliniken, Ärzteschaft und letztlich auch für die Patientinnen und Patienten.

Grund genug, dass sich Angelika Eisenhut sich dieses Themas annimmt, und der Frage nach geht, was die Medizinprodukteverordnung für die endoprothetische Versorgung bedeutet.

Angelika ist selbst doppelte Hüft-TEP-Trägerin, aktiv in der Arthrose Forum Austria Selbsthilfe und TEPFIT-Sebsthilfe, Hüftratgeber-Autorin und Tirolturtle Gastbloggerin.

Die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) titelte in einer im Oktober 2022 veröffentlichen Pressemeldung: „Die EU-Medizinprodukteverordnung erschwert sinnvolle Implantatversorgung“

Die DGOU nahm damit offiziell, zur vom Europäische Parlament erlassenen, neuen Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation, MDR) Stellung.

Schließlich regelt die MDR die Zulassung von mehr als 450.000 Medizinprodukten in Europa und damit auch in Deutschland und Österreich, zu denen auch Endoprothesen gezählt werden.

Prof. Dietmar Pennig, stellvertretender Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie, wird in der DGOU-Pressemeldung folgendermaßen zitiert: 

 

 … Die hohen, für neue Produkte sinnvollen Anforderungen der MDR gelten jedoch auch für Bestandsprodukte, die seit Jahrzehnten erfolgreich eingesetzt werden.

Da für die Hersteller der Aufwand der Re-Zertifizierung in keinem Verhältnis zum Verkaufserlös älterer Produkte steht, sind erste Produkte bereits nicht mehr verfügbar.

Operateure werden andere Implantate als bisher verwenden müssen, mit denen sie u.U. weniger Erfahrung haben und für die keine Langzeitergebnisse vorliegen.

Außerdem werden wesentlich ausgedehntere Revisionseingriffe nötig, wenn für ältere Implantate keine Wechsel-Ersatzteile mehr verfügbar sind.

Die DGOU begrüße zwar grundsätzlich die MDR-Initiative, da sie zu mehr Sicherheit aller Medizinprodukte führen soll. Für langjährig bewährte Produkte seien die Vorgaben jedoch ethisch nicht vertretbar und wissenschaftlich nicht sinnvoll.

 

Medizinprodukteverordnung Gelenkersatz: Chance oder Risiko?

Blicken wir zuerst zurück: Als in Frankreich 2010 ein Skandal rund um Brustimplantate bekannt wurde, war deutlich, dass eine Neuregelung über die Zulassung und Registrierung von Medizinprodukten in der EU notwendig ist.

2012 wurde mit der Ausarbeitung begonnen, 2017 wurde die Medizinprodukteverordnung vom Europäischen Parlament erlassen. Mit dem 27. Mai 2022 endete die erste Übergangfrist für die Umsetzung dieser Verordnung.

Die Medizinprodukteverordnung (MDR) sieht vor, dass jedes in der EU verwendete Medizinprodukt von der Herstellung bis zur Anwendung an Patienten und Patientinnen lückenlos dokumentiert werden soll.

Fälle, wie der in Frankreich oder auch mangelhafte Innovationen im Bereich der Endoprothetik sollen damit verhindert werden.

Die Neuregelung, die in der Theorie hervorragend klingt, weil Transparenz und Information an erste Stelle gesetzt werden sollen, hat in der Praxis mit enormen Anlaufschwierigkeiten zu kämpfen.

Diverse Herausforderungen führen dazu, dass die Patientenversorgung eher gefährdet ist, anstatt verbessert zu werden:

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  • EUDAMED, die europäische Datenbank für Medizinprodukte, ist noch immer nicht vollständig einsatzfähig. Diese Datenbank soll der Öffentlichkeit einen Zugang zu allen Informationen der am Markt vorhandenen Medizinprodukte ermöglichen.
  • Behörden bekommen damit die Möglichkeit von Austausch und Information, um bei der Überwachung des Marktes kooperieren zu können.
  • EUDAMED ist jedoch frühestens Anfang 2023 voll funktionsfähig, obwohl die Verordnung seit sechs Monaten endgültig umgesetzt ist.
  • Nationale Lösungen und Doppelstrukturen sind die Konsequenz, die für die erwünschte Transparenz nicht förderlich sind.

 

  • Aufgrund der Tatsache, dass ein Großteil der notwendigen Zulassungsstellen noch nicht eingerichtet ist, kommt es zu einem enormen Rückstau bei Zertifizierungen neuer und Rezertifizierungen bestehender Produkte.
  • Zusätzlich sorgt die Tatsache, dass keine Fristen für die Bearbeitung vorgegeben sind, zu einer langen Bearbeitungsdauer der eingereichten Dokumente. Kommt es zu keiner Verbesserung dieser Situation, ist ein Versorgungsengpass die Folge.
  • Die größte Herausforderung besteht jedoch im Bereich der Zertifizierungen und Rezertifizierungen. Neue Medizinprodukte werden im Rahmen der EU-Verordnung nur zugelassen, wenn sie einen aufwendigen Zertifizierungsprozess durchlaufen, der klinische Studien und die Prüfung durch ein Expertengremium beinhaltet.
  • Dadurch wird garantiert, dass Qualität und Sicherheit neu entwickelter Produkte gegeben sind.

 

  • Bestehende Produkte müssen im Rahmen der Medizinprodukteverordnung rezertifizieren, wenn ihre Zulassung abläuft.
  • Dies gilt sowohl für Spezialprodukte, die nur für eine kleine Anzahl von Patienten und Patientinnen hergestellt werden, als auch für Produkte, die lange am Markt sind und sich ohne gravierende Vorkommnisse bewährt haben.
  • Eine Rezertifzierung bedeutet, dass bei bestehenden Produkten mit einem hohen finanziellen und organisatorischen Aufwand klinische Studien gemacht werden müssen.
  • Dieser Aufwand ist für Produzenten von Spezialprodukten und viele kleinere Hersteller faktisch nicht tragbar und durchführbar.

Medizinprodukteverordnung Gelenkersatz: Folgen für Betroffene

Was bedeutet dies nun für die Endoprothetik und für Patienten und Patientinnen, die einen Gelenkersatz benötigen?

Einerseits sind die geforderten umfangreiche Studien für neue Implantate gut und wichtig, weil bei diesen Prothesen Langzeitergebnisse hinsichtlich Standzeit und Haltbarkeit fehlen.

Andererseits wird durch den hohen Aufwand die Rezertifizierung bestehender, sich langjährig bewährter Implantate, die klinisch und in den Endoprothesenregistern gut dokumentiert sind, schwierig bis unmöglich.

Hier eine Übersicht:

Endoprothesenregister Deutschland

Endoprothesenregister Österreich (siehe Download Hüft- und Knieendoprothetik in Österreich Stand 2018)

Prof. Dietmar Pennig, stellvertretender Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU), warnt: 

„Schon bald können bewährte Endoprothesen, Nägel und Platten ganz vom Markt verschwinden“. „In der Folge kann die Versorgung von Patienten mit Gelenkersatz nicht mehr auf dem bisherigen Niveau erbracht werden.“

Es ist also zu befürchten, dass es in Kürze zu massiven Nachteilen in der Endoprothetik kommen wird, denn spätestens 2024 laufen alle bestehenden Zertifizierungen aus.

  • Operationen müssen abgesagt oder verschoben werden, da geeignete Prothesen nicht vorhanden sind.
  • Operateure müssen auf Implantate umsteigen, mit denen sie wenig Erfahrung haben und für die keine Langzeitergebnisse vorliegen.
  • Komplikationen können die Folge sein, da jeder Umstieg auf andere Systeme eine Lernkurve bedingt und Erfahrung erarbeitet werden muss.
  • Spezialprodukte, die für die Kinder- und Tumor-Orthopädie notwendig sind, könnten vom Markt verschwinden und die Versorgung dieser Patientengruppen gefährden.
  • Wechsel- und Revisionsoperationen werden größer und schwieriger. Ersatzteile für die zu tauschenden Implantate, die älter und nicht rezertifiziert sind, können nicht mehr bezogen werden.
  • Revisions-Spezialisten können durch das Fehlen von Ersatzteilen gezwungen sein, vermehrt zur Notlösung „Mix & Match“ greifen zu müssen und damit öfter in rechtlich schwierige Situationen gelangen. Dabei werden Implantat-Teile verschiedener Hersteller zwangsläufig gemischt, sodass die Frage der Haftung vom Produzenten auf den Operateur übertragen wird, indem dieser dann rechtlich als Hersteller gilt.

Medizinprodukteverordnung Gelenkersatz: Anpassung nötig

Um die EU-Medizinprodukteverordnung im Bereich der Endoprothetik sinnvoll umsetzen zu können, muss diese dringend angepasst werden.

Einerseits sind Ausnahmeregelungen und ein finanzielles Entgegenkommen für Spezialprodukte gefragt. Andererseits ist für die Sicherheit der künftigen Versorgung mit Ersatzgelenken eine pragmatische Lösung für die Frage der Rezertifizierung lang bewährter Implantate notwendig.

Anstatt neue klinische Studien durchführen zu müssen, sollten die vorliegenden Daten aus der Klinik sowie den Endoprothesenregistern ausgewertet werden können.

Auch die DGOU fordert: unter Berücksichtigung der vorliegenden umfassenden Qualitätsdaten aus den bestehenden Endoprothesen- und Traumaregistern der Fachgesellschaften, eine deutlich erleichterte Freigabe für ältere Produkte und insgesamt eine Nachbesserung bei der Umsetzung der MDR.

Mehr zum Thema Implantate: Wem gehört das Implantant und warum soll die Wahl des Implantates in ärztlicher Hand bleiben, auf dem Blog.

Auch zu den Themen Endoprothesenregister Deutschland und Österreich sowie über das Endoprothetik-Qualitätssiegel Endocert gibt es ausführliche Blogbeiträge.

Das Thema Medizinprodukteverordnung bleibt ein Dauerbrenner. In einer Pressemeldung von Februar 2024 macht die Deutsche Gesellschaft für Endoprothetik (AE) auf „gravierende Probleme, die durch die 2021 eingeführte EU-Medizinprodukteverordnung (MDR) entstanden sind“, aufmerksam.

Man fürchtet um die Pateintensicherheit und fordert daher Vereinfachungen beim Zulassungs- und Rezertifizierungsverfahren. AE-Generalsekretär Prof. Dr. Georgi Wassilew:

Die übermäßige Bürokratie gefährdet die Patientensicherheit, da langjährig bewährte und speziell angefertigte Implantate für Hüft- und Kniegelenke zunehmend vom Markt verschwinden. Diese Entwicklung schadet besonders Patienten mit Sondergrößen, die auf individuelle Lösungen angewiesen sind.

Die strengen und kostenintensiven Zulassungs- und Rezertifizierungsprozesse der MDR machen es für Hersteller unrentabel, Nischenprodukte anzubieten. Das gilt insbesondere für Produkte mit geringerer Stückzahl. Deutschland ist hier nach Indien der zweitbilligste Markt weltweit. Daher haben die Firmen keinen Spielraum für gewinnschwache Nischenprodukte und bereinigen ihre Sortimente.

Dies führt zu einem reduzierten Angebot und zwingt Ärzte, auf weniger geeignete Alternativen auszuweichen oder lange auf Sonderanfertigungen zu warten, was das Risiko für Patienten erhöht.

Die AE fordert daher einen Bürokratieabbau und vereinfachte Verfahren innerhalb der MDR, um eine zeitgemäße und patientengerechte Versorgung sicherzustellen und Innovationen im deutschen Gesundheitswesen zu fördern.

Hinweis: Die hier geteilten Informationen sollen zur Stärkung der persönlichen Gesundheitskompetenz beitragen, ersetzen aber in keinem Fall die ärztliche Diagnose, Beratung und Behandlung.

Foto: Shutterstock

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