Zuletzt aktualisiert am 2. Dezember 2024 von tirolturtle
Gelenkschmerz Mythen und Fakten : Die European Pain Federation räumt mit den fünf wichtigsten Irrtümern auf und bietet Fakten anstelle von Mythen.
Gelenkschmerz Mythen und Fakten: Hättest du es gewusst? Die European Pain Federation EFIC hat das Europäische Jahr gegen den Gelenkschmerz ausgerufen.
Ich finde, das ist eine gute Sache. Über diese Initiative wird öffentlichkeitswirksam berichtet. Es finden Symposien statt.
Im besten Fall führt diese öffentliche Thematisierung und Auseinandersetzung mit dem Thema sowie die Expertentreffen zu neuen Erkenntnissen. Und damit – so bleibt zu hoffen – zur Schmerzlinderung für Betroffene.
Warum es ein europäisches Jahr gegen den Gelenkschmerz gibt? Weil Gelenkschmerzen zu den häufigsten gesundheitlichen Beschwerden überhaupt zählen und mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung über 50 Jahren darunter leidet.
Alles darüber erfährst du im Blogbeitrag: Das europäische Jahr gegen den Gelenkschmerz
Im Rahmen des European Year Against Pain haben internationale Experten am Symposium der Europäischen Schmerzföderation EFIC in Dubrovnik teilgenommen.
Die zahlreichen aktuellen Entwicklungen zu Verständnis und der Behandlung von Schmerzen, die durch Gelenkerkrankungen verursachte werden, wurden dabei diskutiert.
Gelenkschmerz Mythen und Fakten: Fehleinschätzungen
Das Expertensymposium hat u. a. ergeben, dass der aktuelle Forschungsstand populären Annahmen rund um Gelenkschmerzen oftmals widerspricht.
Die Fehleinschätzungen stehen häufig wirksamen Therapien entgegen. Prof. Serge Perrot von der Descartes Universität/Cochin-Klinik in Paris kritisierte beim Symposium in Dubrovnik:
„Die zum Teil zu pessimistischen Fehleinschätzungen verhindern oft, dass sich Patienten in Therapie begeben, obwohl ihr Zustand verbessert und ihre Schmerzen reduziert werden können.“
Prof. Serge Perrot räumt auch mit hartnäckigen Irrtümern zu Gelenkschmerzen auf. Der Experte hat dazu Mythen und Fakten zu Gelenkschmerz thematisiert:
Mythos #1: Je größer der Gelenkschaden, desto schlimmer die Schmerzen
Sehr hartnäckig hält sich die falsche Vorstellung, dass die Schmerzintensität mit dem Grad der anatomischen Gelenkschäden zusammenhängt.
„Das stimmt allenfalls bei sehr starken Läsionen“, sagt Prof. Perrot. Daten zeigen, dass die Hälfe der Personen mit radiologisch nachweisbaren Gelenkschädigungen schmerzfrei leben, während umgekehrt jeder zweite Patient mit Knieschmerzen ein intaktes Gelenk aufweist.
„Die Frage muss also lauten: Gibt es Gelenkveränderungen, die den Schmerz bedingen?“, so Prof. Perrot. Verschiedene Kohortenstudien (MOST, Framingham) weisen beispielsweise nach, dass eine Gelenkspaltverengung eher zu Knieschmerzen führt als Osteophyten, also degenerative, strukturelle Veränderungen des Knochens.
Laut MRT-Studien (Torres, Osteoarthritis Cartilage 2006) können intensive Schmerzen maßgeblich mit Synovialitis (Entzündung der Gelenkinnenhaut) oder Verletzungen des Knochenmarks zusammenhängen, nicht aber mit Osteophyten, Knorpelgewebsveränderungen, Knochenzysten, Subluxationen des Meniskus oder Bändereinrissen.
Mythos #2: Gelenkschmerzen sind gleichbedeutend mit Entzündung
Wer hinter Gelenkschmerzen automatisch eine Entzündung vermutet, liegt ebenfalls falsch. „Entzündungen spielen hauptsächlich bei akuten, nicht aber bei chronischen und mechanischen Schmerzen eine Rolle“, präzisiert Prof. Perrot.
Pathophysiologisch gesehen ist Gelenkschmerz beides: Eine Entzündung der Gelenkinnenhaut und Knochenschmerz, bedingt durch Gelenkspaltverengung, die den lokalen Druck verstärkt.
Laut einer Studie (Laslett, EULAR 2011, London) kann eine Behandlung mit Zoldedronsäure (5 mg i.v.) den Knochenschmerz um 15 Punkte auf der hundertteiligen VAS-Skala reduzieren. Die Knochenmarkverletzungen gehen um 37 Prozent zurück.
Bei Schmerzen, die einer Entzündung der Gelenkinnenhaut geschuldet sind, hilft eine Behandlung mit nicht-steroidalen Antirheumatika (NSAR). Auch die Behandlung von Knochenmarködemen kann den Schmerz lindern.
Mythos #3: Gelenkschmerz kommt vom Gelenk
Scheinbar naheliegend, aber dennoch ein Irrtum ist die Annahme, dass Gelenkschmerz vom Gelenk kommen muss. „Gelenkschmerz ist eine komplexe Erfahrung, in die auch soziale Einflüsse, Schmerzverhalten, Gefühle, Gedanken, Schmerzempfinden und Schäden im nozizeptiven Gewebe hineinspielen“, unterstreicht der Experte. Wie sehr Schmerz letztlich zur Kopfsache werden kann, demonstriert er am Beispiel Arthrose:
Spontaner Arthrose-Schmerz zeigt sich im Gehirn im medialen präfrontalen Kortex und wirkt sich auf den Gemütszustand aus. Der durch einen Stimulus hervorgerufene Schmerz zeigt sich in den Gehirnregionen, die somatosensorisch nozizeptive Prozesse bearbeiten. Im Zentralnervensystem führt Gelenkschmerz zur Sensibilisierung des Gehirns und dadurch zur lokalen Überempfindlichkeit.
Mythos #4: Gelenkschmerz kommt mit dem Alter
„80 Prozent der Arthrose-Patienten gehören zwar zur Altersklasse 50+, aber das Alter allein entscheidet nicht darüber, ob und wie stark man unter Gelenkschmerzen leidet“, erklärt Prof. Perrot.
Für die Schmerzintensität bei Arthrose sind neben dem Alter Übergewicht und lokale Verletzungen bestimmend. Menschen mit dem Genotyp Ile585Val TRPV1 haben eine geringere Schmerzempfindlichkeit im unteren Teil des Körpers und somit ein deutlich verringertes Risiko für schmerzhafter Kniearthrose im Knie.
Bei entzündlichen Gelenkerkrankungen kann das Geschlecht über den Schmerzlevel entscheiden: Frauen leiden stärker als Männer darunter.
Auch Hormone können an Gelenkschmerzen beteiligt sein: Wird Östrogen blockiert, etwa bei einer Brustkrebsbehandlung, kann es rasch zu entzündlichen Veränderungen in den Hand- und Fußgelenken kommen.
Mythos #5: Gelenkschmerz ist nicht behandelbar
Auch wenn Schmerzfreiheit in manchen Fällen kein realistisches Therapieziel ist: Gelenkschmerzen müssen nicht ohne Hoffnung auf Erleichterung hingenommen werden.
Selbst intensiver Schmerz ist nicht gleichbedeutend mit ernsthaften Schädigungen des Gelenks. „Gelenkschmerzen sind jedoch sehr heterogen, daher müssen die Schmerzphänotypen genau analysiert werden, um eine geeignete Behandlung einleiten zu können“, unterstreicht der Experte.
In jedem Fall sollte das Schmerzmanagement aus einer Kombination aus medikamentösen und nicht-medikamentösen Zugängen bestehen, empfiehlt Prof. Perrot.
Quelle: EFIC 2016 – Topical Symposium on Acute and Chronic Joint Pain: Prof. Serge Perrot
Gelenkschmerz Mythen und Fakten: chronisch nach Gelenkoperationen
Diskutiert haben die Experten am Symposium der Europäischen Schmerzföderation in Dubrovnik auch über den chronischen Schmerz nach Gelenkoperationen:
Etwa 20 bis 30 Prozent der Patienten können nach dem Einsetzen eines künstlichen Kniegelenks anhaltend unter Schmerzen leiden. Können also individualisierte, multimodale Ansätze der Schlüssel zu größerem Behandlungserfolg sein?
Enttäuscht und unzufrieden – so fühlen sich viele Patientinnen und Patienten, wenn sie nach einer Kniegelenkoperation nicht die erhoffte Erleichterung erleben, sondern noch Monate oder Jahre von anhaltenden Schmerzen geplagt werden.
Laut Experten sind aber chronische Schmerzen nach einer Gelenkoperation nach wie vor ein stark unterschätztes Phänomen. Aufgrund des demografischen Wandels und der Zunahme an Gelenkoperationen sind immer mehr Menschen davon betroffen.
Generell berichten zwölf Prozent der Patienten noch ein Jahr nach einem chirurgischen Eingriff mäßige bis starke Schmerzen, so eine europäische Beobachtungsstudie.
Neuere Studien aus Dänemark, Frankreich und Norwegen belegen überdies, dass ein erstaunlich hoher Anteil der Patienten nach dem chirurgischen Eingriff weiterhin die gewohnte Dosis oder sogar mehr Schmerzmedikamente benötigt als vorher.
Die Experten schlussfolgern daraus, dass Zahlen vermutlich nicht das volle Ausmaß des Problems abbilden und dass die aktuellen Instrumente zur Schmerzbewertung nicht immer aussagekräftige Informationen liefern.
Außerdem zeigen Studien, dass manche Betroffene nach dem Eingriff ungern zugeben, wie sehr sie leiden – weil sie nicht undankbar erscheinen wollen oder der Schmerz nach der OP vielleicht etwas weniger intensiv ist als vorher.
Was dabei oft übersehen wird: Die Patienten leiden nicht unter den alten Beschwerden oder dem unmittelbaren postoperativen Schmerz, der nach der Wundheilung verschwindet. Sie haben mit neuen Beschwerden zu kämpfen.
Quelle: EFIC 2016 – Topical Symposium on Acute and Chronic Joint Pain: Prof. Henrik Kehlet; Dr. Vikki Wylde
Gelenkschmerz Mythen und Fakten: Gewichtsmanagement und Opioide helfen
Ältere Menschen mit chronischen Schmerzen am Muskel-Skelett-System sind oft unter behandelt und würden von Opioiden profitieren.
Das zeigt eine aktuelle Studie, die ebenfalls auf einem Symposium der Europäischen Schmerzföderation EFIC in Dubrovnik präsentiert wurde.
Das Schmerzniveau und der Medikamentenbedarf sinken, wenn, Arthrose-Patienten durch Diät und Bewegung Kilos verlieren, so eine andere aktuelle Untersuchung.
Hinweis: Die hier geteilten Informationen sollen zur Stärkung der persönlichen Gesundheitskompetenz beitragen, ersetzen aber in keinem Fall die ärztliche Diagnose, Beratung und Behandlung.
Foto: Fotolia
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